Erfahren fallen einem nicht zu, Erfahrungen muss man machen
„Der Wein hat Korken“ sagte der Georgio Rivetti und alle andern am Tisch widersprachen heftig: Domenico Clerico, Guido Fantino, Armando Parusso. Auch die Sommelière des „Ciau del Tornavento“ im piemontesischen Treiso verneinte, brachte aber eine neue Flasche, denn Rivetti war der Produzent des Weins und wie die andern einer der Stars unter den Weinmachern im Land von Barolo, Barbaresco und Barbera.
Und er hatte recht. Der Wein der zweiten Flasche wirkte wie befreit: aromatisch duftend, reintönig und schmeckte finessenreich und elegant. Welch ein Unterschied. Dabei war die erste Flasche nicht schlecht gewesen und zeigte weder den typischen Korkgeruch noch einen andern Fehler. Alle hätten ihn anstandslos getrunken und nie erfahren, was für einen grossartigen Wein sie versäumt hätten.
Dieses Erlebnis im fand ich in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen, dass man als Weinliebhaber und Amateur auch nach mehr als dreissig Jahren bewusstem, intensivem Umgang mit Wein immer noch lernen kann, zum andern, dass sich auch ausgewiesene und erfolgreiche Profis irren können.
Wein hat tausend Gesichter, unzählige Facetten. Der gleiche Wein präsentiert sich jedes Jahr wieder neu und anders. Wein altert und kann ungeniessbar werden. Wein muss gepflegt, aufmerksam behandelt und gelagert werden. Wein ist im Trend und Trends verändern den Wein. Und nichts ist beständiger als die Veränderung: Weinbücher aus den siebziger und achziger Jahren behandelten die traditionellen Weingebiete in Europa, allenfalls auf Weine aus Kalifornien wurde beiläufig hingewiesen. Heute bestimmen interessante und erstaunlich preisgünstige Produkte aus Chile, Australien, Neuseeland, Südafrika und Kalifornien wesentliche Teile des Angebots und der Weinkarten.
Wer sich auskennen will beim Wein, wer den Überblick haben und behalten will, muss ständig probieren, experimentieren und viel lesen. Das kostet Zeit und Geld, und noch etwas mehr Geld, wenn die Erkundungen und Erfahrungen auch auf ältere Jahrgänge ausgedehnt werden sollen.
Für meinen Vater war ein Essen ohne ein gutes Glas Wein nicht denkbar; kaum im weinfähigen Alter, übernahm ich diese Gewohnheit und bekam zu jedem Glas kenntnisreiche Erläuterungen (deren konsequente Ausführlichkeit mich allerdings gelegentlich nervten).
Während des Studiums betreute ich das Feuilleton einer Wochenzeitung, deren für Kultur zuständiger Herausgeber der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt war. Dieser hatte einen imposanten Weinkeller und war von einer unschweizerischen Grosszügigkeit beim Öffnen von grossen, einmaligen Bouteillen. Keine Flasche ohne Geschichte, kein Wein ohne Dürrenmattschen Kommentar, neben dem sich einfache Degustationsnotizen lesen wie Beschreibungen von Himbeersirup.
Als ich zur ZEIT nach Hamburg ging, schenkte er mir 6 Flaschen Château Margaux 1947. Darauf baute sich in 35 Jahren eine Weinsammlung auf, die mir bei gleichbleibenden Verzehr- und Trinkgewohnheiten und ohne Zukäufe zumindest bei den höherwertigen Roten und Weissen noch gute zwölf Jahre Freude machen dürfte. Die etwas über 2000 Flaschen haben vor zwei Jahren (endlich) den langersehnten klimatisierten Keller bekommen und warten bei konstanten 11 Grad Temperatur und 75 % Luftfeuchtigkeit erschütterungsfrei im Dunkeln auf ihre Stunde. Darunter auch einige aus dem legendären Jahr 1947.
Was sich hier etwas angeberisch liest, ist eine Geschichte, die aus Interesse besteht, aus Neugier, Begeisterung und Leidenschaft; aber auch aus Fehlern, Fehlkäufen, Enttäuschungen und dem Verzicht auf etwas zugunsten einer schönen Flasche – und aus fehlenden Erfahrungen: Der Weisswein, den ich – kenntnisreich tuend und die hochgezogene Augenbraue des Sommeliers besserwisserisch ignorierend – zum ersten Abendessen mit der Flamme aus meinem Semester spendierte, erwies sich als Bordeaux mit deutlicher Restsüsse. Ein schöner Wein, aber zu Fisch mit mediterranen Kräutern und Gewürzen eine blamable Fehlentscheidung.
Erfahrungen bekommt man nicht, Erfahrungen macht man. Einen süssen Bordeaux hatte ich bis zu jenem Tag nicht im Glas gehabt, meine Vorstellungen von den Weinen der Gegend gingen damals eher pauschal in Richtung „männlich-trocken“ im Gegensatz zu den weiblich-lieblicheren Burgundern (um etwaige Grundsatzdiskussionen im Keim zu ersticken: damals!).
Von meiner Teilnahme an der ersten Blindprobe muss genügen, dass ich darüber nicht schreiben möchte; von meinem ersten Auktionskauf nur soviel: wer Weine zu Preisen ersteigert, die um soviel übersetzt sind, wie die Weine Lebenserwartung bereits hinter sich haben, muss auch ertragen können, wenn sich gutes Geld hässlich gurgelnd im Spülbecken davonmacht.
Die eine oder andere Erfahrung können Sie umgehen oder abkürzen, wenn Sie in den nächsten Monaten an dieser Stelle lesen, was man über Wein wissen sollte: Über die wichtigsten Rot- und Weissweine, Stars, Bluffer, Blender; Kultweine, Traubensorten und Lagen, Herstellungsverfahren, Stahltanks und Barriques, Haltbarkeit, Serviertemperatur und zu welchen Gerichten man welche Weine trinkt. Über Fachbegriffe und Weinsprache, Weinkritiker, Listen, Bewertungen, Empfehlungen und Publikationen. Über das Probieren und Degustieren, das Prüfen und Reklamieren im Restaurant, Weinkarten, das richtige Glas, die Sprache des Etiketts. Über Händler, Versandhändler, Internet, Subskriptionen und Auktionen, über Schnäppchen und Preise. Auch über das Sammeln und Lagern, über Struktur und Zusammenstellung des eigenen Kellers, Planung und Bau. Über Weinproben, Zukunft des Weins, Trends, Manipulationen und die Internationalisierung des Geschmacks.