Wein trinken
Die beste Zeit für eine ernsthafte Degustation ist die Zeit vor dem Mittagessen; da sind noch alle Sinne wach, aufnahmebereit und die Sensoren gespitzt.
Diese Zeitspanne heisst „heure bleue“ und wird von den Franzosen auch gerne für das „beste Glas Champagner am Tag“ genutzt.
Robert Parker, 56, Amerikaner aus Maryland, gelernter Rechtsanwalt, Herausgeber des Newsletters „The Wine Advocate“ ist zurzeit der einflussreichste Weinkritiker. Vielzitiert, gefürchtet und umstritten. Seine Anhänger kaufen blind, was von ihm mit über 95 (von 100 möglichen) Punkten bedacht wird und zeigen sich hinsichtlich der durch die Punkte ständig steigenden Preise (noch) weitgehend schmerzfrei und unbeeindruckt. Kritiker und Gegner werfen ihm seine Vorliebe für körper- und extraktreiche, schwarzdunkelrote Weine vor, beklagen die „Parkerisierung“ vieler Weinproduktionen und halten ihn ausserhalb seiner Lieblingsgebiete Frankreich und Kalifornien für schlechtinformiert, inkompetent und wegen seines unbestritten grossen Einflusses für gefährlich.
Der Mann, dem nicht wenige Wein-Jungstars märchenhafte Preisentwicklungen zu verdanken haben, kritisiert genauso undifferenziert, wie er überschwenglich loben kann: „Die deutsche Pinot-noir-Traube bringt einen grotesken und ziemlich scheusslichen Wein hervor, der ungefähr so schmeckt wie ein misslungener, süsser, müder und verdünnter roter Burgunder von einem inkompetenten Winzer“. Da mag man zwar völlig anderer Meinung sein, aber der Mann setzt Trends:
So ist auf Degustationen, selbst bei Blindproben zu beobachten, dass Weine, die oft so konzentriert und in Körper und Aromen so wuchtig sind, dass sie sich aufs Butterbrot streichen oder mit Messer und Gabel verzehren lassen, häufig besser abschneiden, als feinere und leichtere Weine, bei denen Alkohol und Säure im normalen Bereich liegen, deren Aromen elegant sind und finessenreich und nicht von der Vanillekeule des getoasteten Barriques erschlagen werden.
Dass diese Monsterweine zur Zeit begehrt sind und für viele Weinmacher ein erstrebenswertes Produktionsziel darstellen, ist das zweifelhafte Verdienst (neben anderen) auch von Robert Parker. Parker-Punkte bedeuten Nachfrage und hohe Preise.
Degustationen oder Blindproben sind eine gute Möglichkeit, Weine kennenzulernen, zu vergleichen und das Weingedächtnis zu schulen. Die äusseren Umstände sollten stimmen und etwa wie folgt sein: Ein heller Raum mit einem weissen Tischtuch (Weinfarbe), keine Nebengerüche aus Küche, Parfümflasche oder Lippenstift der Nachbarin (Geruch), richtige Temperaturen für die anstehenden Weine und einheitliche, blitzsaubere, spülmittelduftfreie Gläser, die den Kriterien des internationalen, neutralen Degustationsglases (kelchförmig, nach oben enger werdend, klares, dünnwandiges Glas auf einem mindestens fünf Centimeter hohem Fuss) entsprechen. Solche Gläser sind im Handel erhältlich und werden in geschirrspülmaschinengeeigneten Varianten von den Glasmachern Riedel und Spiegelau hergestellt. Wasser und Brotwürfel zum Neutralisieren sollten bereitstehen, ebenso Kübel zum Ausspucken und für die Reste im Glas.
Sind die Weine, meist als Vierer- oder Fünfer-Flights, auf dem Tisch, werden sie nach Farbe, Duft und Geschmack geprüft. Für jeden Wein sollte man sich zwei, drei Minuten Zeit nehmen. Mehr als 70 Weine pro Tag schafft auch Robert Parker nicht, bei Süssweinen verlassen auch Profis nach dem vierzigsten Wein die Sinne. Das heisst nicht, dass sie betrunken wären (geschluckt wird bei einer Degustation allenfalls der letzte, beste Schluck) sondern weil die Geschmacksnerven vor der hier im guten Sinne konzentrierten Süsse und Säure von Spätlesen oder Eisweinen kapitulieren.
Es trainiert Systematik und zwingt zur Konsequenz, wenn man sich zu jedem Wein die spontanen Eindrücke zu Farbe, Geruch und Geschmack aufschreibt und nach dem 100er-System von Parker oder nach der 20er-Skala, wie sie der führende deutschsprachige Newsletter „Weinwisser“ und z. B. der „Feinschmecker“ verwenden. Reizvoll und überraschungsreich sind natürlich Blindproben, bei denen die Flaschen komplett verhüllt und weder Kapsel noch Korken zu sehen sind. In diesem Fall werden Weine nach Nummern bewertet und die Notizen nachträglich mit Jahrgang und den Daten zum Wein ergänzt.
Auch ausgewiesene Kenner irren sich. Wer je mit geschlossenen Augen seinen Lieblings- Rotwein aus dem Kühlschrank und den Weissen zimmerwarm nebeneinander probiert hat, weiss, wie schwierig es ist, nur schon diese beiden Weine auseinanderzuhalten. Die angeblich wahre Geschichte, in welcher ein berühmter Weinpapst bei der Blindprobe nicht nur Jahrgang und Gebiet, sondern auch noch den Weinmacher, Mischverhältnis der Trauben, Hanglage und Rebenzeile genannt haben soll, ist höchst unwahrscheinlich, allenfalls eine nette Fabel.
Die definitiven Qualitäten eines Weins zeigen sich erst im harmonischen Zusammenspiel mit einem Gericht, dessen Eigenaromen vom Koch erhalten und im Hinblick auf einen begleitenden Wein unterstrichen wurden. Hier scheitern immer häufiger jene Monster-Weine, die in Nur-Degustationen glanzvoll abgeschnitten hatten. Sie sind laut, wie sie dick und fett sind, sie sind anstrengend und ermüdend und sättigen auf unangenehme Weise. Kalifornische Chardonnays waren die ersten, die so schwergewichtig auftraten, inzwischen sind dort die besten Weinmacher gottseidank wieder auf der schlanken, eleganten Linie. Geblieben ist das neue ABC der Weintrinker, die genug haben von den Degustations-Fruchtmonstern – anything but Chardonnay. Es lässt sich auf viele der neuen Weine anwenden. Abgewandelt auch für viele Rote.
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