Rotwein
Es ist noch nicht lange her, da hatte ein ordentlicher Rotweintrinker die Hierarchie seiner persönlichen Vorlieben in Kopf, Nase und Gaumen abgespeichert: Für den Platz an der Spitze kamen nur Bordeaux oder Burgund in Frage. Darunter standen allenfalls noch das Rhônetal, Piemont und die eine oder andere emotional geprägte Erfahrung.
Wer sich erfolgreich durch die Burgunder durchgearbeitet hatte, kam in der Regel auch mit den Bordeaux zurecht, wechselte im fortgeschritteneren Alter häufig das Lager um schliesslich – gelegentlich nach einem kleinen aber nicht nachhaltig beeindruckenden Umweg über die Toskana – bei den tanningeprägten Piemontesern anzukommen. Und diese Erfahrungen bestimmten fortan die Trinkgewohnheiten und die Ankäufe für den eigenen Keller.
Diese klassischen Rotweintrinker sind am Aussterben. Einerseits, weil Weinfreunde heute flexibel experimentieren und vergleichen wollen. Weil sie das trinken, was ihnen schmeckt; heute dies, morgen das und weil die wenigsten lange warten wollen (meist könnten sie ohnedies nicht lagern). Aber auch, weil zahlreiche Weine neu ins Spiel gekommen sind. Weine, die noch vor wenigen Jahren keine ernsthaften Kandidaten waren: Amerika mit den Weingebieten in Kalifornien und Washington State, Spanien mit Ribera del Duero, Priorato, Navarra und Penedès, Portugal mit den neuen Gebieten Dao und Bairrada, Australien, Neuseeland, Südafrika, Chile, Argentinien.
In der neuen roten Weinwelt spielen Bordeaux und Burgund zwar nach wie vor eine wichtige Rolle, aber sie dominieren das Geschehen längst nicht mehr so ausschliesslich wie vor einigen Jahren.
Reichten früher Herkunft und der Name des Châteaux oder des Produzenten aus, um einen Wein in die engere Wahl zu nehmen, ist die Traubensorte heute ein weiteres Kriterium. Die Mischsätze der grossen Gewächse aus dem Bordelais (Cabernet Sauvignon plus Merlot, Malbec, etwas Cabernet franc und vielleicht etwas Petit Verdot, in St. Emilion und Pomerol mehrheitlich Merlot) und die Pinot noir-Traube, aus der die roten Burgunder gemacht werden, die – ohne dass gross darüber nachgedacht wurde, das Geschmacksbild geprägt hatten – müssen sich inzwischen gegen sortenreine Syrahs (Shiraz in den USA und Australien), Merlots aus Kalifornien, Chile und Südafrika, Cabernet Sauvignons aus der Toskana (Sassicaia, Ornellaia, Tignanello), Nebbiolos und elegante Barberas aus dem Piemont behaupten. Oder gegen neue, interessante und aufregende Kombinationen und Assemblagen, auf die ein klassischer Weintrinker im Leben nicht gekommen wäre: Nebbiolo+Cabernet Sauvignon oder die klassische Chianti-Traube, Sangiovese, plus Cabernet Sauvignon oder vereint mit Merlot.
Auch jene, die lange Zeit nicht in der ersten Reihe gestanden hatten, legten an Charakter und Qualität zu: Neue, elegantere, weichere und vor allem schneller trinkbare Barolos und Barbarescos kamen auf den Markt, raffinierte Barberas (lange als mittelmässige Massenware geächtet), die im Eichenholzfass eine schmeichelnde Eleganz bekommen hatten, das Rhônetal mit dem Syrah-Star Hermitage und dem aus bis zu dreizehn Traubensorten assemblierten Châteauneuf-du-Pape machte von sich reden, die Super-Toskaner (Weine, deren Macher aus der klassischen Chianti-Formel, die mehrheitlich San Giovese vorschrieb, ausgebrochen waren und neue Weine als schlichte Vini da tavola produzierten) rissen die halbe Region mit und brachten eine Dimension von Qualität ins Chianti-Gebiet. Aus dem Süden Frankreichs, aus dem Friaul, aus der Franciacorta, aus der Schweiz (Wallis, Bündnerland und Tessin) kommen bemerkenswerte Rotweine und selbst harmlos-leichte, bisher mehr süffige Vertreter demonstrieren Entwicklungspotential: Gamay im Beaujolais, Dolcetto im Piemont.
Der neue Trinktrend bei den Roten geht zu massiv-satten aber weichen Tanninen, intensiver Frucht aus spät und hochreif gelesenen Trauben, konzentrierten Extrakten, geringer Säure und delikat-feiner Süsse und insgesamt zu früherer Trinkreife. Die Trendsetter bei den Trauben heissen Syrah, Grenache, Murvèdre, Tempranillo vor Sangiovese, Cabernet Sauvignon und Merlot.
Genauso munter haben sich leider auch die Preise entwickelt. Newcomer und Ausländer liegen nicht mehr viel unter den notorischen Spitzenpreisen von Klassikern (in Euro pro Flasche, Jahrgang 1996 wie Latour 240; Margaux 250; Mouton-Rothschild 180; Lafite-Rotschschild 250; Pétrus 1000 oder roten Top-Burgundern wie Clos de Vougeot von Leroy 350), sondern sind auf dem besten Weg, deren schwindelerregende Preise einzuholen oder zu übertreffen: Le Pin 800; La Mondotte 500; Valandraud 360; Astralis 180, Dominus 130, Opus One 140, Penfolds Shiraz 200; Ornellaia 100; Sassicaia 120.